Forschung rettet Augenlicht von Kindern
Viel zu früh kam der kleine Aiden-James auf die Welt. Seine Mama Jaqueline L. war in der 28. Schwangerschaftswoche, als sie ganz plötzlich Schmerzen bekam und Blutungen hatte. Im Krankenhaus setzte man alles daran, die Geburt hinauszuzögern. „Kaum erhielt ich die Lungenreife-Behandlung, war auch schon bald die Fruchtblase geplatzt – er wollte einfach raus“, erinnert sich die 34-Jährige heute.
Diagnose: Frühgeborenenretinopathie
Neben einem Leistenbruch diagnostizierten die behandelnden Ärzt*innen eine Frühgeborenenretinopathie, eine Gefäßerkrankung der Netzhaut. „Die Blutgefäße der Netzhaut entwickeln sich erst in den letzten Wochen der Schwangerschaft“, erklärt Prof. Andreas Stahl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde. Kommt ein Kind also mehrere Wochen zu früh zur Welt, sind die Blutgefäße der Netzhaut noch gar nicht weit genug ausgebildet. „Man kann sich das wie einen Gefäßbaum vorstellen, dessen Zweige noch nicht bis in die Peripherie der Netzhaut vorgewachsen sind“, so Stahl.
Die Entwicklung der Blutgefäße verläuft nach der Frühgeburt entweder normal weiter oder die Gefäßentwicklung bleibt zunächst stehen. Dann wachsen die Blutgefäße gar nicht weiter und die äußere Netzhaut bekommt somit zu wenig Sauerstoff. Die Folge: Die Zellen der Netzhaut schütten plötzlich sehr viele Wachstumsfaktoren aus, die das Blutgefäßwachstum wieder anregen sollen. „Das Problem besteht jedoch darin, dass es dabeizu einer unkontrollierten und überschießenden Wucherung von fehlerhaften Blutgefäßen kommen kann“, erzählt Stahl. „Die Gefäße wachsen dann völlig ungerichtet in den Glaskörper, also in die Mitte des Auges, und ziehen dabei die Netzhaut ab.“ Das kann zu Seheinschränkungen und im schlimmsten Fall zur Erblindung führen.
Deshalb musste auch Aiden-James nach der Geburt sehr engmaschig augenärztlich kontrolliert werden. „Die Diagnose war klar, doch die große Frage stand im Raum: Wird er es allein schaffen oder benötigen die Blutgefäße Unterstützung?“, so Jaqueline L. Die emotionale Achterbahnfahrt fand so schnell kein Ende. Drei Tage nach Entlassung kam der Kleine wieder an die Unimedizin: Corona. „Durch Inhalation konnte er das aber gut überstehen“, so die 34-Jährige.
Nur einen Monat später wurde Aiden-James wieder krank: diesmal RSV. „Er hatte Atemaussetzer, wurde richtig blau und wir mussten schnell handeln.“ Im Krankenhaus angekommen wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Durch den erhöhten Sauerstoffbedarf wurde zudem die Frühgeborenenretinopathie befeuert. „Es bestand also akuter Handlungsbedarf, wenn wir wollten, dass er nicht erblindet“, erinnert sich Jaqueline L.
Oberärztin Dr. Marie-Christine Bründer von der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde an der Universitätsmedizin Greifswald begleitete die Familie während dieser Zeit. Die Augenärztin klärte ausführlich zu den Therapiemöglichkeiten auf. Ein Verfahren, das seit den 1990er Jahren praktiziert wird, ist die Lasertherapie. Bei dieser Behandlung wird die Gefäßneubildung mit einem Laser gestoppt. „Es ist quasi ein Verbrennen der äußeren, noch nicht mit Gefäßen versorgten Netzhaut, sodass daraus ein Narbenareal wird“, erklärt Bründer. Zwar schüttet die vernarbte äußere Netzhaut dann keine Wachstumsfaktoren mehr aus, jedoch bleibt durch das Lasern eine funktionslose Netzhaut in diesen Bereichen zurück. Das zentrale Sehen kann gerettet werden, das Gesichtsfeld wird durch die Narbenreaktion jedoch eingeschränkt.
Deutlich häufiger entscheiden sich die Eltern heutzutage daher gemeinsam mit den Augenärzt*innen und Neonatolog*innen der UMG für die Injektion eines Medikaments durch eine Spritze ins Auge. Der Arzneistoff schafft es, die Netzhautablösung zu verhindern und die Blutgefäße in der richtigen Bahn wachsen zu lassen – ohne, dass dabei ein Narbengewebe entsteht.
Paradigmenwechsel durch Forschung
„Dass es mittlerweile zwei zugelassene Medikamente für die Behandlung der Frühgeborenenretinopathie durch eine Spritze gibt, ist den Zulassungsstudien der vergangenen Jahre zu verdanken“, betont Andreas Stahl. Er erklärt: „Es gibt den sogenannten ‚Vascular Endothelial Growth Factor‘, kurz VEGF. Das ist der Hauptwachstumsfaktor für Blutgefäße und damit auch der Haupttreiber bei der Frühgeborenenretinopathie.“ Schon lange gebe es in der Forschung bei verschiedenen Erkrankungen Erwachsener Untersuchungen zu VEGF-Inhibitoren – also Hemmstoffen dieses Treibers für überschießendes Blutgefäßwachstum.
Dieses Prinzip übertrugen Forscher*innen ab 2011 auf die Behandlung von Frühgeborenen. „Man konnte dadurch herausfinden, dass diese Anti-VEGF-Medikamente generell auch bei Frühchen gut wirkten, was uns schon 2014 in Deutschland zur weltweit ersten Studie mit dem Arzneistoff Ranibizumab bei der Frühgeborenenretinopathie führte“, so Stahl. Der Greifswalder Klinikdirektor zeigt sich zufrieden, „denn wir konnten anschließend im Rahmen einer globalen Studie an über 200 Kindern in 80 Kliniken herausfinden, dass das Medikament im Ergebnis mit der Lasertherapie vergleichbar ist und darüber hinaus kein Narbengewebe entsteht“.
Die Greifswalder Publikationen dazu sind bis heute auf internationaler Ebene in der Wissenschaft hoch angesehen. „Was man an diesen Studien besonders gut erkennen kann, ist die enge Verknüpfung von Forschung und Behandlungspraxis“, betont Andreas Stahl. Seit 2019 sei das erste Medikament, mit dem man mittels Spritze die Frühgeborenenretinopathie behandeln kann, in Europa und vielen anderen Teilen der Welt zugelassen. Wenig später erfolgte schon die Zulassung eines zweiten Medikaments. Das sei ein großer Erfolg, der die Behandlungsmöglichkeiten der Frühgeborenenretinopathie deutlich erweitert habe.
Parallel zur Forschung für die Zulassung neuer Medikamente für Frühgeborene organisiert und leitet die Greifswalder Augenheilkunde ein europäisches Register zur Frühgeborenenretinopathie: das European Registry On Retinopathy Of Prematurity (EU-ROP). Hier werden Daten zu handlungsbedürftigen Frühgeborenen im klinischen Alltag gesammelt, außerhalb von klinischen Studien, also im ganz realen Behandlungsalltag. Diese Sammlung von Behandlungsdaten hilft dabei, einen Überblick über die verschiedenen praktizierten Behandlungsmuster und potentiell auftretende Komplikationen zu bekommen. „Bei einer so seltenen Erkrankung wie der Frühgeborenenretinopathie ist ein solches Register, an dem sich aktuell über 50 Zentren aus 12 Ländern beteiligen, ein wesentliches Standbein“, hebt Stahl hervor.
Spritze anstatt Laser
An der Unimedizin Greifswald wird die Erkrankung mittlerweile nur noch selten mittels Lasertherapie behandelt. Das mache man, wenn die Kinder schon gut ausgebildete Blutgefäße haben und nur noch ein kleiner Saum gelasert werden muss, erklärt Marie-Christine Bründer. „Auch, wenn Eltern befürchten, dass sie die notwendigen engmaschigen Nachkontrollen über einen langen Zeitraum nach einer Behandlung mit der Spritze nicht wahrnehmen können, ist der Laser zu bevorzugen. In den meisten anderen Fällen, gerade wenn vor allem zentrale Bereiche der Netzhaut betroffen sind, empfehlen wir dagegen heutzutage eher die Spritze.“
Für Jaqueline L. war schnell klar, dass sie sich für die Spritze entscheiden würde: „Frau Bründer war in dieser aufwühlenden Zeit so fürsorglich, baute mich auf, nahm mir Ängste und konnte mir zugleich verständlich klarmachen, wie die Behandlung abläuft und welche möglichen Nebenwirkungen es gibt – da hatte ich volles Vertrauen in die behandelnden Ärzt*innen.“
Bei Aiden-James genügte zum Glück eine einmalige Spritze pro Auge. Unter einer kurzen Narkose wurde bei ihm der Wirkstoff injiziert. Nach weniger als 15 Minuten war der Eingriff auch schon vorbei. „Der Kleine sah danach ein bisschen wie ein Zombie aus, weil seine Augen so gerötet waren“, Jaqueline L. muss schmunzeln. Dann wird sie wieder etwas ernster: „Ich bin mir sicher, dass er nach dem Eingriff auch etwas Schmerzen hatte, aber ich wusste ja, dass er in guten Händen war.“ Noch drei Tage blieb er im Krankenhaus und bekam Augentropfen verabreicht. Danach ging es wieder nach Hause.
Auch die engmaschigen Nachkontrollen stellten für die Grimmerin kein Problem dar. „Wir mussten ja eine Zeit lang auch regelmäßig zu den Chirurg*innen wegen des Leistenbruchs von Aiden-James“, erzählt sie, „aber an der Unimedizin hat man unsere Termine immer so gelegt, dass wir alles an einem Tag abklappern konnten – das war total hilfreich“.
Anfangs schauten die Augenärzt*innen noch alle zwei Wochen auf den Verlauf. Dann wurden die Abstände langsam größer. Heute ist Aiden-James anderthalb Jahre alt. Nur noch alle sechs Monate muss er zur Nachkontrolle. Seine Blutgefäße konnten normal weiterwachsen. Er kann sehen und scheint keine Einschränkungen zu haben. Er kommt aber auch langfristig weiterhin zu augenärztlichen Kontrollen, damit in Zukunft alles so gut bleiben kann, wie es bei Aiden-James zum Glück durch rechtzeitiges Erkennen und Behandeln der Frühgeborenenretinopathie geworden ist.